Sonntag, 10. August 2014

Ein Tag in York

Ich weiß, ich weiß, ihr seht jetzt diesen Blogeintrag und denkt euch: "der hört ja überhaupt nicht mehr auf", aber ich habe auch wirklich viel unternommen heute und ein paar interessante Dinge zu erzählen, ich empfehle daher, wenigstens bis zu dem Teil mit der Schokolade zu lesen :)

Morgens bin ich zum York Castle Museum gestiefelt - ein wirklich gutes Museum, weil es darin nicht um Krieg und Politik geht, sondern um das alltägliche Leben der Menschen. Besonders schön darin sind typisch eingerichtete Räume aus verschiedenen Epochen,

 eine Küche, in der traditionelle Gerichte aus verschiedenen Zeiten gekocht und gebacken werden (zur Zeit - anlässlich des 100. Jahrestags des 1. Weltkriegs - Gebäck, das erfunden wurde, um die Nahrungsmittelknappheit zu umgehen: Ingwerkekse mit Haferflocken statt Mehl und dergleichen),

 Erläuterungen zu den wichtigsten Ereignissen im Leben der Menschen zu verschiedenen Epochen (zum Beispiel was Hochzeitsmode angeht: ursprünglich trugen die Leute einfach ihre beste Kleidung zu Hochzeiten und erst im zwanzigsten Jahrhundert hat sich die Hochzeitsmode völlig von Alltagskleidung losgelöst.
Und mein besonderer Favorit: Trauermode. Der Ehemann von Königin Victoria ist relativ früh gestorben, woraufhin sie den Rest ihres Lebens lang Trauer getragen hat und die soziale Verpflichtung für Witwen, anständig für Trauer gekleidet zu sein, immer mehr zunahm: verschiedene Stadien der Trauer, die verschiedene Kleidung erforderten, die jeweils extra angefertigt wurde und meist nicht lange hielt, bis ein zeitgenössischer Schriftsteller sich beschwerte, dass die Leute mehr Geld für Trauerfeiern ausgaben als für Geburtsfeste und Taufen)

und dann noch ein Stadtzentrum, in dem man herumlaufen und sich die Läden ansehen konnte: Apotheke, Polizei, Sattelmacher, Süßigkeiten-, Spielzeug-, Lebensmittel-, Hut- und Kleidungsgeschäfte und und und.

Mein Favorit dabei war die Kakaostube und diese Einrichtungen haben wirklich eine interessante Geschichte: besonders während der industriellen Revolution gab es riesige Slums von Arbeitern, die tagsüber gearbeitet haben, abends ihr Geld bekamen, in den Pub gingen und sich betrunken haben: es gab ständig Streitigkeiten in den Familien, Morde unter den Betrunkenen und so weiter.
Und dann kamen die Quäker. Die Quäker schauten sich das alles an und wollten etwas dagegen tun, also haben sie Kakaostuben gegründet. Dort konnte man mit seiner ganzen Familie hingehen (im Gegensatz zu Pubs, die damals keine Kinder erlaubt haben), alkoholfreie Getränke trinken, es gab bildende Vorträge (zum Beispiel zu Hygiene), Diashows, mit Bildern von anderen Ländern, und Klaviermusik - alles von Quäkern, die sich freiwillig damit beschäftigt haben und ihre Zeit der Verbesserung der Lebens in den Slums gewidmet haben.
Dann kamen die Fanatiker und haben die Kakaostuben genutzt, um ihre Religion zu predigen, was alles etwas ruiniert hat, aber trotzdem war es bis dahin eine echt gute Sache.

Vom Castle Museum aus bin ich durch den Teil der Stadt gegangen, für den York berühmt ist: die Shambles - eine Straße, die fast im original-mittelalterlichen Zustand erhalten ist. Sehr hübsch (mit Markt daneben, auf dem es originale altmodische Zitronenlimonade-Wagen gibt, die sehr leckere frische Zitronenlimonade machen).

Von dort aus ging es weiter zum wichtigsten Wahrzeichen von York: dem Münster (das eine Kirche ist, weil es dort Gottesdienste gibt, und eine Kathedrale, weil es dort einen Erzbischof gibt (in England gibt es nur zwei Erzbischöfe: Canterbury und York, was York zur zweitwichtigsten Stadt der anglikanischen Kirche macht) und ein Münster, weil es gegründet wurde, um das ringsum liegende Land zu missionieren.
 Nach nur etwa einer halben Stunde Schlangestehen, um in das Münster zu kommen, war ich auch schon drinnen, und hatte das Glück, dass direkt danach eine geführte Tour durch das Innere losging, die wirklich gut war.
Hier ein paar Höhepunkte.
Hier (links und rechts, weiter unten ist auch noch ein richtiges Foto) sieht man das wunderhübsche Chorgestühl der Kirche - allerdings alles nachgemacht, weil irgendwann mal ein unzufriedener Yorker, der fand, die Kirche mache alles falsch, sich nach dem Gottesdienst dort versteckt und dann das gesamte Chorgestühl angezündet und damit sogar das Dach ruiniert hat.
Danach hat sich das Yorker Münster dann die erste Polizei von ganz England zugelegt - um ihr Münster zu bewachen.
 Das Münster ist über 1400 Jahre alt - ursprünglich eine kleine Holzkapelle, dann von den Römern ausgebaut, dann von den Wikingern neu aufgebaut und dann nochmals neu aufgebaut (man kann unten in der Krypta die verschiedenen Fundamendschichten sehen - die Pfeiler, die das Hauptschiff tragen, stehen genau auf den Außenwänden des ehemaligen Wikingergebäudes).
Außerdem enthält es die Hälfte des gesamten in England erhaltenen Fensterglases aus dem Mittelalter: als nach dem Bürgerkrieg die reformatorischen Parlamentarier an die Macht kamen, mussten alle Heiligenbilder, Jesus- und Marienbilder zerstört werden und damit auch die meisten der Fenster. Nur dem Hauptmann der Yorker Wache, der sich buchstäblich seinen Leuten in den Weg gestellt hat, ist es zu verdanken, dass die Yorker Fenster allesamt erhalten geblieben sind.
 Hier noch eine meiner Lieblingsstellen der Führung: um die leeren Nischen zu füllen, wurden vor ein paar Jahren Figuren hineingestellt, die im Flaggenalphabet sagen "Christ is here". Dann mussten die Figuren kurz entfernt werden, als ein Film im Münster gedreht wurde, der zu reformatorischen Zeiten spielte - also durfte es keine Figuren geben.
Danach wurden die Figuren wieder aufgestellt und lange Zeit wurde allen erzählt, was sie bedeuten - bis irgendwann ein kleiner Junge sagte: "Nein, da steht 'Chris is there' - sie hatten das t an die falsche Stelle gestellt :)

Danach bin ich dann noch die 270 Stufen (ächz!) bis auf den Turm hinaufgewendelt (die Aussicht war herrlich)
 und war dann noch in der Krypta und Schatzkammer und - besonders schön - den Sonderausstellungen anlässlich der fortlaufenden Renovierungen, in denen man sehen kann, wie fehlende oder kaputte Sandsteinblöcke ersetzt werden und wie man die Fensterscheiben rekonstruiert: weil viele von ihnen so alt sind, dass sie schon mehrmals repariert wurden (tatsächlich gibt es in einem der Fenster Anmerkungen, wann es repariert wurde, eine davon mit dem Vermerk: mangelhaft, die einzige in einem Glasfenster festgehaltene Kritik Englands), wurden im Laufe der Zeit einfach immer mehr Bleistücke eingesetzt und die Fenster immer mehr zerstückelt. Heute kann man fehlende Teile nachbasteln und mit Klebern zusammenfügen, sodass die Fenster wieder aussehen wie ursprünglich. Glasfensterrekonstruktion scheint ein ziemlich interessanter Beruf zu sein.

Nach dem Münster kam eine echte Überraschung: das Yorker Schokoladenmuseum. Hat irgendwer schonmal was von York in Kombination mit Schokolade gehört? Ich auch nicht.
Hier das Interessante: Schokolade wurde in York erfunden (sagen jedenfalls die Yorker). Als sie aus Südamerika mitgebracht wurde, wurde sie hundert Jahre lang nur getrunken, und die Quäker in York waren es (übrigens Bekannte vom Gründer von Cadbury), die essbare Schokolade erfunden haben.
Damit geht die Tour auch los: man bekommt erst Schokolade, wie sie die südamerikanischen UreinwohnerInnen getrunken haben, dann Schokolade nach dem ursprünglichen Quäker-Rezept und dann kommt man in den aktuellen Bereich.
Weil wir ja 100 Jahre ersten Weltkrieg haben, gab es einen Extraraum für den Zusammenhang und das war ganz seltsam: dort gibt es Fotos von Männern, die den Krieg (teilweise mehrere Gasangriffe und Schüsse, davon einige aufgrund von stabilen Kakaodosen in strategisch gut platzierten Taschen) überlebt haben, ohne die es heute Dinge wie zum Beispiel KitKat nicht geben würde - da haben sie erfunden, als sie aus dem Krieg zurückkamen.
Schokolade bekamen damals viele Soldaten - das war ihre weihnachtliche Ablenkung von Salzfleisch und harten Armeekeksen und es gibt buchstäblich hunderte von Dankesbriefen von Soldaten an die Schokoladenfabrik.

Hier meine Lieblingsgeschichte:
während alle anderen Soldaten ihre Schokorationen aus angst vor Diebstahl in ihren Socken versteckt haben, gab es einen Lieutenant, der ständig soviel Schokolade von unbekannt zugeschickt bekam, dass er am Ende nicht wusste, wohin damit.
Warum?
Weil er Yorker war und es in der Yorker Zeitung einen Bericht über ihn gab - mit einem Foto von dem sehr attraktiven Menschen. Den sah eine der Arbeiterinnen in der Schokoladenfabrik, die ihren Job (das Verzieren von 1000 Pralinen pro Stunde für 55 Pence nach sechs Tagen Arbeit) dazu nutzte, Schachteln von Pralinen an den hübschen jungen Lieutenant zu schicken.
Was sie nicht wusste, war, dass jede Menge andere Arbeiterinnen in der Fabrik auch machten, sodass der Soldat dann mit Schokolade überschüttet wurde :)

Dann ging es weiter zum aktuellen Teil: was es für Kakaobohnensorten gibt (was ich nicht wusste: es gibt eine besonders seltene und edle Kakaosorte namens Criollo: eine Praline aus Schokolade dieser Sorte kostet etwa 150 Pfund!)
 wie man Schokolade schmeckt (ähnlich wie Wein gibt es auch dafür eine eigene Geschmackssprache), wie man Schokolade macht und wie man Pralinen macht.
Da gab es dann auch noch mehr hervorragende Kostproben.

Von dort aus bin ich zum Stadtwall gegangen (York ist eine der wenigen Städte mit fast völlig intakten Stadtmauern) und etwa ein Drittel der Strecke um das Stadtzentrum herum spaziert - das Wetter heute hat sich wirklich alle Mühe gegeben, die Überflutung von gestern, die York in klein-Venedig verwandelt hat, wiedergutzumachen.

Um 17:15 war ich dann nochmal im Münster, wo um die Zeit das Abendsingen stattfindet (unser Tourguide hatte uns davon erzählt): ein Gottesdienst, der hauptsächlich aus Wechselgesängen zwischen Chor und Priester (oder wie auch immer das in der anglikanischen Kirche heißt) besteht und zu der jeder vorbeikommen und im wunderhübschen Chorgestühl im Münster sitzen kann.
Könnt ihr die Glasrahmen hinter den Personen in der hintersten Reihe erkennen? Das ist ganz putzig: als das neue Chorgestühl gebaut wurde, war für die Männer gerade eine neue Pomade mit dunkler Farbe in Mode - und wenn die Männer dann im Gottesdienst eingeschlafen und ihre Köpfe nach hinten gesunken sind, haben sie blauschwarze Flecken im Holz hinterlassen. Deshalb wurden schnellstens hinter allen Sitzplätzen farbunempfindliche Glasrahmen aufgehängt.

 Nach einem gemütlichen Pub-Abendessen war ich dann noch bei einer Yorker Geister-Wanderung: man wird durch die Stadt geführt (entlang dem Schwarze-Katzen-Pfad: an vielen Häusern entlang des Weges sind Figuren schwarzer Katzen auf den Balkonen und Dächern)
und hört die Geistergeschichten der Stadt: ein kleines Mädchen, das während der Pest lebendig eingemauert wurde, eine römische Geisterarmee die auf den Knien durch den Keller des Schatzhauses marschiert, ein Hund im Münster und jede Menge Geister in einem Pub, die von zahllosen betrunkenen Gästen bestätigt wurden :)
Geister gesehen haben wir keine.

Und dann war es Zeit für den Heimweg: beleuchtet von einem wunderschönen Sonnenuntergang, bei dem York sogar noch hübscher aussah, bin ich auf der anderen Seite des Flusses auf der Stadtmauer zurückspaziert und habe mich auf dem Weg zum Hotel auch nur ein winzigkleines bisschen verlaufen.

Worauf ich mit all dem hinaus möchte: York ist eine sehr, sehr schöne Stadt und ich bin heilfroh, dass ich nochmal hierher gekommen bin.

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