Samstag, 19. Juli 2014

Anderthalb Stunden in York

Bestimmt habt ihr eben den Blog aufgerufen und gedacht: "Uaaaaah, schon wieder so viel zu lesen." Aber heute ist es anders, denn was ich heute zu berichten habe, ist etwas ungewöhnlicher als sonst.

Seit Tagen droht der Wetterbericht damit, dass England dieses Wochenende von einer Hitzewelle heimgesucht werden wird: Liverpool hatte gestern über 28 Grad und während der kommenden Tage soll es noch schlimmer werden. Dazu jede Menge Luftfeuchtigkeit, sodass für abends/nachts jeweils Gewitter angekündigt sind.
Heute bin ich entsprechend nur im T-Shirt zur Arbeit gegangen, wegen der Hitze, und habe es gerade so ins Institutsgebäude geschafft, bevor die Hitzewelle eine kleine Sintflut über Liverpool ausgegossen hat. Bisher unterscheidet sich diese Hitzewelle nicht allzusehr vom sonstigen Wetter (was mir nur recht ist, aber ich habe heute trotzdem alle damit aufgezogen, dass das also das ist, was man in England unter einer Hitzewelle versteht).

Dann war heute natürlich Freitag, also waren alle wieder etwas gesprächiger als sonst: Mike hat mir von den grässlichen Geschäftspraktiken von Nestle erzählt, die Cadbury aufgekauft haben (und dabei hatten die früher so gute Bedingungen für ihre Arbeitnehmer!), Tony fiel auf, dass wir uns noch gar nicht in Ruhe unterhalten haben, und Ash kam irgendwann vorbei und zeigte mir stolz seinen eben gerade erst fertiggestellten Prototypen der neuen Leiterplatten.
Und von der allgemeinen Gesprächigkeit angesteckt, habe ich dann Tim angesichts der neuen Klebeproben
von Loriot erzählt: aschgrau, mausgrau, bleigrau, steingrau, staubgrau, zementgrau ...

Tim und ich haben heute weiter mit den fertigen Klebeproben gearbeitet und eine neue Sorte Dehnungsplättchen auf Kohlefaserstreifen geklebt und getestet. Ich habe noch nicht mit der Auswertung angefangen, aber was wir beim Messen gesehen haben, unterschied sich doch auffällig von dem, was wir dachten, wie es aussehen sollte. Das beschäftigt uns bestimmt noch ein paar Wochen.
Als wir damit fertig waren, bin ich dann aus dem 18° kalten, trockenen Reinraum nach draußen getroffen und wurde von einer Hitzekeule getroffen: die angekündigte feuchte Wärme ist tatsächlich eingetroffen. Aber ich hatte es nicht weit: nur bis zum Hauptbahnhof und dann in den Zug nach York, das ich mir für dieses Wochenende vorgenommen habe.

In York (nur minimal kühler als Liverpool) angekommen, da war es so gegen neun, war mir klar, dass ich nur noch mein Bed&Breakfast suchen und dann nicht nochmal rausgehen würde, also bin ich nicht auf direktem Weg zu meinem gebuchten Zimmer gegangen, sondern noch ein bisschen durch York bei Sonnenuntergang gestreift. York ist dafür berühmt, sich seinen mittelalterlichen Charme trotz und während Industrialisierung erhalten zu haben und das zurecht - die Stadt ist wirklich schön.



Gegen viertel zehn kam ich dann ziemlich k.o. und leicht müffelnd an meinem Bed&Breakfast an - und dann stellte sich heraus, dass ich mich offenbar zunehmend zur zerstreuten Wissenschaftlerin entwickele: ich hatte mein Zimmer für nächstes Wochenende gebucht. Hrmpf.
Machte aber nichts, ganz York ist voll von Hotels und kleinen Bed&Breakfasts. Also habe ich in der Straße, in der ich eh schon war, und in ungefähr vier angrenzenden, bei allen B&Bs an die Tür geklopft oder angerufen. Alles ausgebucht.
Machte aber nichts, dachte ich mir, neben zahllosen B&Bs ist die Stadt zusätzlich auch mit Hotels angereichert, also habe ich noch bei allen Hotels entlang des Wegs in die Innenstadt geklopft. Kein Erfolg.
Leichte Anzeichen von Panik begannen sich breitzumachen, aber noch hatte ich nicht aufgegeben: ich habe mir ein Café mit kostenlosem WiFi gesucht und auf der Hotelseite, auf der ich immer buche, ein Hotel, Hostel, B&B, irgendwas gesucht. Und erstaunlicher-, geradezu verblüffenderweise gab es in York einfach kein einziges freies Bett mehr - zumindest nicht für unter 200 Pfund pro Nacht.

Da saß ich nun, nach einem Neunstundenarbeitstag und einer zweistündigen Zugfahrt in einem Pub in einer Stadt, in der ich mich nicht auskannte und in der ich niemanden kannte und tat mir ein wenig leid.

Und dann dachte ich mir: dann halt nicht. Ich hatte ja nun wirklich alles versucht, aber wenn diese Stadt mich nicht dort haben wollte, dann halt nicht.

Also bin ich gegen zehn Uhr, nach etwa anderthalb Stunden in York, wieder zurück zum Bahnhof gestiefelt. Da wurde mir ein winzigkleines Problem bewusst: außerhalb von Städten wie Berlin ist es nicht so üblich, dass man zu jedem Zeitpunkt überallhin kommt, wo man hin möchte. Um halb elf fuhr zwar ein Zug nach Manchester, aber kein einziger Zug von York aus fuhr um die Zeit noch nach Liverpool (laut Anzeige fährt der letzte abends um acht!).
Halb so schlimm, dachte ich mir, fahre ich erstmal nach Manchester, von dort aus fährt bestimmt noch was nach Liverpool.
Wie immer an diesem Tag, wenn ich dachte, irgendetwas wäre halb so schlimm, lag ich natürlich auch diesmal falsch. Der Zug endete in Manchester, nichts zu machen, und der nächste Zug fuhr erst um 4:49.
(Lustigerweise fuhr ein Zug nach York um zehn vor eins :)

Da saß ich dann in der Manchester-Bahnhofshalle mit einem frischen Mocca (das kann ich empfehlen: wenn man nachts auf einem Bahnhof herumsitzt, ist ein Mocca genau das Richtige!) und einem zum Glück im Zug frisch aufgeladenen Laptop - und es war ganz merkwürdig: eigentlich war es ganz nett. Man bekam genug zu essen und zu trinken, weil nicht alles zu hatte, und überall saßen und standen Menschen herum, die sich nett unterhalten haben: Freunde, Backpacker, Familien mit ihren deutlich ergrauten Großeltern - es war direkt ein bisschen gemütlich.
Also habe ich mich hingesetzt und die Daten ausgewertet, die Tim und ich gesammelt hatten (wann hat man schonmal viereinhalb Stunden am Stück Zeit, in Ruhe zu arbeiten) - während der letzten zwei Stunden mit Hitzegewitter im Hintergrund (man denkt, man hört einen Zug, aber es fuhr kein Zug: das hier ist Regen)
 und in Gesellschaft einer Schauspielerin, die in einem Themenpark Leute davon überzeugt, dass die Zombieapokalypse ausgebrochen ist, und einem leicht alkoholisierten (schwulen) Partygänger, der nicht fassen konnte, dass seine beste Freundin ihn wegen irgendeines Kerls einfach sitzen gelassen hatte, auch beide aus Liverpool.
Halb sechs in Liverpool haben Pandora und ich uns dann noch ein Taxi geteilt (sie wohnt zum Glück auch in Wavertree) und um sechs lag ich dann im Bett und mein Abenteuer war beendet.

Ich will gar nicht behaupten, dass ich nicht lieber ein Wochenende in York verbracht hätte, aber eine Nacht am Bahnhof von Manchester war definitiv auch eine Erfahrung. Und nicht die schlechteste.

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